Sechstagekrieg – Israel – Linke

Aus aktuellem Anlaß

Martin Kloke/ Micha Brumlik

 Konkret

Ein abgeschlossenes Kapitel?

Im Juni 2007 jährt sich der Sechstagekrieg zum 40. Mal. In Konkret 05/98 schrieben Martin Kloke und Micha Brumlik über das Verhältnis der (bundes-)deutschen Linken zum Staat Israel.

I) Ausgelebte Projektionen (Martin Kloke)

“ Wenn man die deutsche Linke charakterisieren und definieren will, fällt einem die legendäre Beschreibung der Pornographie durch James Potter Stewart, Richter am US-Supreme Court, ein: >Ich habe keine Ahnung, wie ich sie definieren soll, aber sagen wir einmal so: Ich weiß, was es ist, wenn ich sie sehe. <“ Andrei S. Markovits

„Was ist heute noch links?“, rätselte kürzlich eine Hamburger Wochenzeitung. Sind Analytiker mit Blick auf KONKRET selten um eine Antwort verlegen, fiel Rainer Frenkels Bilanz eher kryptisch aus: „Wo aber und was links auch immer ist – seinen real existierenden Ort hat es auf dem Schreibtisch.“

Das fehlte noch! Gerade beim Thema Israel sind deutsche Linke nicht nur „betroffen“: Sie engagieren sich, klagen an und können auch schon einmal antisemitisch zündeln – cum ira et studio. Fünfzig Jahre nach seiner spektakulären Gründung ist der jüdische Staat noch immer ein libidinös besetzter Fixpunkt.

Bis Mitte der sechziger Jahre war Israel für die deutsche Linke der Zufluchtsort überlebender Opfer faschistischer Gewaltherrschaft, das Land der Kibbuzim, das zukunftsträchtige Modell eines freiheitlich-sozialistischen Musterstaates. „Linkssein“ implizierte eine Wechselbeziehung zwischen Antifaschismus, Proisraelismus und innenpolitischer Restaurationskritik. Lediglich parteikommunistische Kreise hatten sich bereits Ende der vierziger Jahre von der stereotypen Glorifizierung des jüdischen Kleinstaates abgewandt, um einen ebenso monotonen Antizionismus zu pflegen – getreu dem Kurswechsel des großen Bruders in Moskau.

Erst der Sechstagekrieg vom Juni 1967 sollte der linksdeutschen Israel-Begeisterung ein jähes Ende bereiten: Angesichts der monströsen antiisraelischen Rhetorik der arabischen Kriegspropaganda hatten sich noch Anfang Juni vereinzelt auch lokale Gruppen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) den breiten Solidaritätsaktivitäten zugunsten des bedrängten Israels angeschlossen. Der durchschlagende militärische Erfolg des Judenstaates aber löste mitnichten Erleichterung aus – im Gegenteil: Bereits Anfang September 1967 definierte die zentrale „22. Delegiertenkonferenz“ des SDS den Staat Israel als ihren außenpolitischen Feind Nr. 1. In einer Diktion, die das gesamte terminologische Arsenal des organisierten Antizionismus der siebziger Jahre vorwegnahm, hieß es: „Der Krieg zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn kann nur auf dem Hintergrund des antiimperialistischen Kampfes der arabischen Völker gegen die Unterdrückung durch den angloamerikanischen Imperialismus analysiert werden. Der SDS verurteilt die israelische Aggression gegen die antiimperialistischen Kräfte im Nahen Osten.“

Waren erst einmal Friedfertigkeit und Unschuld der arabischen Staaten ebenso mit deutscher Gründlichkeit festgestellt wie die israelische Kriegsschuld, mußte post festum das gesamte zionistische Unternehmen in Mißkredit geraten: „Zionistische Kolonisierung Palästinas hieß und heißt bis heute: Vertreibung und Unterdrückung der dort lebenden eingeborenen arabischen Bevölkerung durch eine privilegierte Siedlerschicht … Die Anerkennung des Existenzrechts der in Palästina lebenden Juden durch die sozialrevolutionäre Bewegung in den arabischen Ländern darf nicht identisch sein mit der Anerkennung Israels als Brückenkopf des Imperialismus und als zionistisches Staatsgebilde.“

Beeindruckt von der militärischen Schlagkraft palästinensischer Fedayin, die im März 1968 der isralischen Armee empfindliche Verluste beigebracht und auf diese Weise – wenigstens für ein paar Stunden – die verletzte arabische „Würde“ wiederhergestellt hatten, verloren bald weite Teile linksdeutscher „Internationalisten“ ihre letzten Hemmungen gegenüber der vorbehaltlosen Identifikation mit einem mythisch verklärten palästinensischen „Widerstand“.

Spätestens 1969 war das antizionistische Weltbild komplett. KONKRET bildete da keine Ausnahme: Von der differenzierten Kolumne Ulrike Meinhofs („Drei Freunde Israels“) bis zum Trikont-Revolutionsromantizismus eines Detlef Schneider („Die dritte Front“) verstrichen keine zwei Jahre. Zu Dutzenden reisten noch im Sommer 1969 linksdeutsche Sympathisanten in das haschemitische Königreich Jordanien, um praktische Solidarität mit dem palästinensischen „Volksbefreiungskrieg“ zu üben. „Nach Israel fahren wir erst, wenn es sozialistisch geworden ist“, höhnte SDS-Vorständler Hans-Jürgen Krahl. Internationale Brigaden wurden dann zwar doch nicht aufgestellt, aber der SDS dokumentierte fortan in seinem Mitglieder-Info die heroischen Fatah-„Militärkommuniques“ zu „erfolgreichen“ terroristischen Aktionen in Israel.

Keine Linke ist vor 1967 so proisraelisch gewesen wie ausgerechnet die bundesdeutsche. Und keine andere ist nach 1967 so exzessiv antiisraelisch in Erscheinung getreten. Dafür gab es Gründe:

1. Geschichtsvergessenheit: Zur Leidensgeschichte der Juden im nationalsozialistischen Deutschland fehlte der Neuen Linken – anders als einer älteren Generation linker Akteure – der unmittelbare biographische und historisch-politische Zugang. Daß die Vernichtung von Millionen Juden, die die düsteren Voraussagen des zionistischen Geschichtspessimismus bei weitem übertroffen hatte, die Abkehr von universalistischen Illusionen und die Hinwendung zu dezidiert nationaljüdischen Konzepten nahelegen mußte, kam den Angehörigen der ersten deutschen Nachkriegsgeneration nicht in den Sinn. Sie nahmen stillschweigend die „Gnade der späten Geburt“ in Anspruch. Die besonderen historischen und sozialpsychologischen Momente israelischer Tagespolitik gingen sie nichts an.

2. Antiimperialistisches Sendungsbewußtsein: Der Präventivschlag des militärisch eingekreisten Israel gegen seine arabischen Nachbarn im Juni 1967 mag den äußeren Anlaß für die Akzeptanz „antiimperialistischer“ Argumentationsfiguren in der neulinken Nahostdebatte gebildet haben. Weitaus bestimmender wirkten sich Veränderungen des ideologischen Klimas aus: Waren die verarmten Massen der Dritten Welt als die neuen Subjekte chiliastisch erwarteter Emanzipationsprozesse ausgemacht, so schien der Kampf der palästinensischen „underdogs“ gegen den vom US-Imperialismus unterstützten zionistischen Judenstaat keine kritischen Rückfragen mehr zuzulassen. Ob in Algerien, Vietnam, Lateinamerika oder in Palästina: In das sozialgeschichtliche Korsett des Antiimperialismus eingezwängt, traten die historischen Besonderheiten und Widersprüche der einzelnen Konfliktgebiete zugunsten antikolonialer Eindeutigkeit zurück.

3. Innenpolitischer Paradigmenwechsel: Der Sechstagekrieg markiert auch hier insofern eine Wende, als er das antisemitische Klischee vom militärisch untauglichen Juden gründlich erschütterte. Das israelische Staatswesen als Versinnbildlichung jenes neuen Juden, der die „ahasverischen“ Charakteristika seiner früheren Diaspora-Existenz abgelegt hatte, vermochte nun über Nacht die Sympathien bürgerlich-konservativer Kreise auf sich zu ziehen. Darüber hinaus begannen die enormen militärischen Erfolge des jüdischen Staates militaristische Phantasien anzuregen. Die zum Teil makabre Begeisterung über die „israelischen Wüstenfüchse“ und angeblichen „Erben Rommels“ rührte auch aus den Verklemmungen des Ost-West-Gegensatzes, in dem der jüdische Staat als antikommunistische Projektionsfläche diente. In einer Situation, in der die bundesdeutsche Rechte das Thema „Israel“ positiv zu besetzen begann, blies die Neue Linke zum Rückzug und griff trotzig antizionistische Argumentationsfiguren auf. Immer stärker begann ein linker Anti-Philosemitismus die Szenerie zu beherrschen – nach dem Motto: Wenn Springer für Israel ist, können wir nur dagegen sein.

4. Projektionen und Ersatzmythen: Auschwitz hatte der deutschen Linken den positiven Bezug auf ihre nationale Identität unmöglich gemacht. Nicht zuletzt deswegen zeigte sich ein beträchtlicher Teil der Neuen Linken – paradoxerweise besonders der „Internationalisten“ – empfänglich für die Identifikation mit anderen Nationen und deren Befreiungsbewegungen. Zugleich bediente der neulinke Antifaschismus das Bedürfnis nach Relativierung, Aufrechnung und moralischer Entlastung der eigenen nationalhistorischen Hypothek: Wenn bereits die bürgerliche Gesellschaft und ihr Staat „faschistisch“ waren, mußte der historische Nationalsozialismus an Schrecken verlieren. Der Holocaust wurde als vielseitig nützliche Metapher zur Denunziation des politischen Gegners mißbraucht. Am Ende dieses Prozesses stand die ersehnte Gleichung: „Zionismus = Faschismus“. Am Staat Israel ausgelebte Projektionen gehörten zu den auffälligsten Folgen der unterbliebenen Aufarbeitung der Vergangenheit: „Aus dem Sündenbock war erst der Tugendbock geworden, beladen mit allen Idealen und Tugenden, die man in seiner eigenen Geschichte und bei seinen Eltern nicht antreffen konnte, und die Enttäuschung über die nicht gelungene Projektion eines moralischen Hochstandes – eines Übermenschen würdig – schuf schließlich den alt-neuen Sündenbock“ (Hans Keilson).

Noch in der Hochzeit der westdeutschen Friedensbewegung erfreuten sich verbale Gleichsetzungen der bedrohlichen Aufrüstungsspirale mit dem Holocaust großer Beliebtheit. Gelegentlich ließen einzelne „Vordenker“ sogar den Mythos der jüdischen Weltverschwörung wieder aufleben: Die „sadistische“ US-amerikanische Militärpolitik sei ein Produkt verspäteter jüdisch-zionistischer „Rachephantasien gegen die Deutschen“. Fest davon überzeugt, daß die „zionistische Lobby“ über einen politisch „unverhältnismäßig großen Einfluß“ verfüge, leiteten die Verfasser eines Artikels in der renommierten Zeitschrift „Psychologie heute“ einen – am biblischen Talionsprinzip orientierten – Aktionsplan der US-Administration ab: „Deutschland, das die Juden gemordet hat und ausrotten wollte, soll nun seinerseits vernichtet werden.“

Der gegen links gewendete Antisemitismus-Vorwurf ist beinahe so alt wie das antizionistische Syndrom, das dem schlimmen Verdacht immer wieder Nahrung gibt. Dieser Bestandteil abendländischer Normalität ist in der Geschichte der deutschen Linken bis heute virulent – mal trotz, häufiger noch wegen Auschwitz. Auch in linken Kreisen geht es nicht selten gegen das „jüdische Kapital“: Berliner Maoisten verfaßten ein Flugblatt gegen „US-Imperialismus und Weltzionismus“, die Leitung des Kommunistischen Bundes in Hamburg rief zum Kampf gegen den „internationalen Zionismus“ auf. Bis in die 80er Jahre nahm der linke Antizionismus eine Platzhalter-Funktion für den nicht gesellschaftsfähigen Antisemitismus ein, er war die „intelligente“, die „ehrbare“ Variante des antisemitischen Ressentiments.

Bezeichnend war die demonstrative Gleichgültigkeit, mit der Teile der Friedensbewegung die existentielle Bedrohung der jüdischen Bevölkerung Israels durch irakische Raketenangriffe im Golfkrieg 1991 hinnahmen. Wer in jenen Winterwochen „Solidarität mit Israel“ propagierte, mußte sich rechtfertigen und bekam Meinungen zu hören wie die des grünen Vorstandssprechers Christian Ströbele, demzufolge irakische Raketenangriffe auf jüdische Wohngebiete in Israel „die logische, fast zwingende Konsequenz der Politik Israels“ seien. Immerhin: Mitglieder des grünen Bundesvorstandes distanzierten sich seinerzeit von Ströbeles Äußerungen, Joschka Fischer nannte seinen Parteifreund gar einen „Büttel Saddam Husseins“.

Unter dem Druck der öffentlichen Kritik trat Ströbele wenige Tage später zurück, doch wurde ihm vielfach auch Unterstützung signalisiert. Die Grünen-Vorständlerin Renate Damus nannte den Journalisten Henryk Broder, der das Interview mit Ströbele geführt hatte, einen „Schmierenjournalisten“. Zwar nahm sie den Ausdruck später zurück, wobei ihr Bedauern vor allem dem Problem galt, daß man als Deutscher eben „nicht alles sagen (kann), auch wenn es wahr ist“. Der linke Journalist Dietrich Schulze-Marmeling nannte die Kritik an Ströbele verächtlich „Propaganda gegen den Antisemitismus“. Ströbeles Anwalt Klaus Eschen sah die gegen Ströbele gerichtete „Kampagne so geschickt eingefädelt“, daß er anfänglich angenommen habe, Broder „wäre ein Agent des israelischen Geheimdienstes Mossad mit dem Auftrag, die Grünen als die entschiedensten Gegner israelischer Politik in Deutschland zu destabilisieren“. Auch Ströbele sah sich im nachhinein von konspirativen Machenschaften bedrängt: „Ein paar Wochen nach der Rückkehr aus Israel ist mir, als wache ich aus einem bösen Traum auf Da saßen dunkle Gestalten spät abends in den Räumen der >Taz<, verfaßten und verschickten einen Drohbrief an mich und versorgten einschlägige Landtagsfraktionen der Grünen mit Material. Alle scheinen nur auf ein Zeichen gewartet zu haben, sich auf mich zu stürzen.“ Gerade dieses – in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommene – Nachspiel zum Fall Ströbele zeigte, wie schnell Verschwörungstheorien virulent werden, wenn es um Israel und die Juden geht.

In weiten Teilen des linken Milieus und seiner grünen Erben ist in den letzten Jahren Nachdenklichkeit eingekehrt. Alarmiert von antisemitischen Exzessen in ihren eigenen Reihen haben sie begonnen, sich von Freunden und Genossen zu distanzieren, die die deutsche Geschichte auf dem Rücken ihrer Opfer zu bewältigen suchen. Als Joschka Fischer und andere prominente Grüne im Frühsommer 1995 zu ihrem ersten „Staatsbesuch“ nach Israel aufbrachen, titelte die „Berliner Zeitung“ nicht von ungefähr: „Grüne sind jetzt auch bei Rabin salonfähig“. Nicht mehr Anti-Faschismus, Neutralismus und Antizionismus, sondern Pro-Israelismus, Westbindung und Anti-Totalitarismus gelten in zivilgesellschaftlich orientierten Kreisen als „political correct“ – auf den ersten Blick jedenfalls.

Die Neue Linke ist Geschichte. Manche der zitierten antizionistischen Entgleisungen klingen heute wie Relikte aus dem Kuriositätenkabinett. Schon 1993 hat Micha Brumlik in einem Nachruf auf das linksdeutsche Israel-Bild behauptet, mit dem vorläufigen Friedensschluß zwischen Israel und der PLO sei „ein Kapitel deutscher (Un-)Bewußtseinsgeschichte geschlossen“ worden. Tatsächlich haben antizionistische Aktivitäten an Ausstrahlung verloren. Dieser Trend hat mit kathartischen Binnenimpulsen zu tun, ist aber auch ein Indikator für den äußeren Zerfall der radikalen Linken in Deutschland. Der Friedensprozeß im Nahen Osten hat ein Übriges dazu getan, einem weltanschaulich auftretenden Antizionismus den Boden zu entziehen.

Andererseits: Auch in einer Linken, deren politischer Einfluß rückläufig ist, wird weiter mit einem Bodensatz antizionistisch motivierter Protagonisten zu rechnen sein. Der Antisemitismus tritt immer dann aus dem kollektiven Unbewußten hervor, wenn Rückschläge im nahöstlichen Friedensprozeß das Bild des „häßlichen“ Israeli aufscheinen lassen. In der linksliberalen „Frankfurter Rundschau“ figurierte die israelitische Landnahme zu Kanaan vor mehr als 3.000 Jahren – pünktlich zum Tag der deutschen Einheit – als das historische Vorbild für die nationalsozialistische Judenvernichtung. Die PDS verschickte 1996 „aus Versehen“ eine israelpolitische Presse-Erklärung, die das SED-Politbüro wortwörtlich bereits 1982 im „Neuen Deutschland“ veröffentlicht hatte. In der linksprotestantischen Zeitschrift „Junge Kirche“ tobte 1997 ein monatelanger Antisemitismus-Streit: „Netanjahu läßt Killerinstinkte wieder aufwachen“ hieß es in einer Kolumne. Wesentliche Überlieferungen der hebräischen Bibel sollten besser aus dem biblischen Kanon eliminiert werden. „David war kein Messias, sondern ein Mörder. Er sollte weder in Jerusalem als politisches Vorbild noch in deutschen Kirchen als Liedvers vorkommen.“ Präziser hätten es die nazi-freundlichen „Deutschen Christen“ auch nicht ausdrücken können. Leser-Zuschriften zeugten von eruptiven Ausbrüchen; unter der relativ ruhigen Oberfläche brodelt die antisemitische Lava noch immer gewaltig.

Was will die deutsche Linke, so es sie noch gibt? Will sie ihren Standort „kommunikativ beschweigen“ (Hermann Lübbe) oder aber das umfängliche zeitgeschichtliche Material ohne Tabus sichten, rekonstruieren, diskursiv und selbstkritisch aufarbeiten? Als Subjekt ihrer Geschichte muß sie diese Frage selber beantworten.

Martin Kloke ist Autor des Buches „Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses“ (Schriftenreihe des Deutsch-Israelischen Arbeitskreises für Frieden im Nahen Osten, Band 20), 2. aktualisierte Auflage 1994, Wochenschau Verlag

II) Die Dialektik der Moral (Micha Brumlik)

Ein – sicher nicht das entscheidende – Motiv für Benjamin Netanjahus Unwillen, mit den Palästinensern Frieden zu schließen, dürfte der Tod seines Bruders sein. Er starb bei der Geiselbefreiung von Entebbe, als ein Kommando der isrealischen Armee im Uganda Idi Amins gekidnappte Flugzeugpassagiere der Gewalt palästinensischer und deutscher Terroristen entriß. Die Terroristen hatten zuvor, um Druck auf Israel auszuüben, jüdische und nichtjüdische Geiseln getrennt, und es waren Deutsche, die diese Selektion vornahmen. Der Name eines jener deutschen Terroristen war Winfried Böse, er wurde erschossen. Ich kannte Winfried Böse flüchtig – als Mitglied einer anarchistischen Gruppierung im Frankfurt/Bockenheim der siebziger Jahre war er mir als unser Kassierer bekannt geworden: ein eher mißmutiger, dicklicher junger Mann aus Nordhessen, der in Anlehnung an den frühmittelalterlichen „Missionar der Deutschen“ „Boni“ genannt wurde. Was mochte ihn mit der Bereitschaft zum Mord an Juden in das Innere Afrikas und in den Tod geführt haben?

Seither sind gut zwanzig Jahre vergangen und die historischen Vorgänge ausreichend erforscht und dargestellt. Wem es um Fakten geht, der wird nach wie vor zu der vorzüglichen, bisher unübertroffenen Darstellung von Martin Kloke über Israel und die deutsche Linke greifen, die ebenso nüchtern wie fair zu dem unausweichlichen Schluß kommt, daß der größte Teil der (Neuen) Linken – von Wolfgang Abendroth über weite Teile des linken Flügels der SPD, die frühen Grünen bis zu den Autonomen – über lange Jahre mindestens antizionistisch, wenn nicht antisemitisch eingestellt war. Daß es schon frühzeitig in den Redaktionen von „Taz“, KONKRET, „Links“ und „Arbeiterkampf“ andere Positionen gab, sei nicht verschwiegen. Auch vereinzelte Intellektuelle, allen voran und sehr früh Jean Améry, später Henryk Broder, Dan Diner, Eike Geisel und Wolfgang Pohrt, haben schon bald den gar nicht so geheimen Nationalismus und Entschuldungswahn des neulinken Antizionismus in Deutschland kritisiert.

Heute fällt auf, daß sich auf der Linken niemand mehr zum Thema äußern will. Der letzte, der noch öffentlich bereit ist, Israels Siedlungspolitik als das zu bezeichnen, was sie ist, nämlich völkerrechtswidrig, heißt Klaus Kinkel und ist Bundesaußenminister. Die Bündnisgrünen, die vor Jahr und Tag noch in jedes mögliche Fettnäpfchen getreten sind, schweigen fest, und die einzigen, die sich des „Palästinaproblems“ noch annehmen, sind Kirchentage und evangelische Akademien. Fast könnte man meinen, daß hier ein wenig zu gut gelernt wurde oder – ebenso merkwürdig – das damalige Engagement doch weniger ernst gemeint als vorgetragen war. Wie war das eigentlich?

Am Anfang stand die Kritik an einem Adenauer-Regime, das um der deutschen Einheit willen Israel nicht diplomatisch anerkennen wollte. Erinnert sich noch jemand der „Hallstein-Doktrin“, wonach jede Beziehung zu Staaten abzubrechen war, die den zweiten deutschen Staat diplomatisch ernst nahmen? Die arabischen Staaten haben mit ihrer leeren Drohung, die DDR anzuerkennen, wenn die BRD Israel anerkannte, immerhin bis in die frühen sechziger Jahre Erfolg gehabt. Die Linke stand – immer mit Ausnahme der an der DDR orientierten Kommunisten – gegen die Reaktionäre und für das mutige Volk der den Holocaust überlebt habenden Kibbuz-Sozialisten. Diese entpuppten sich 1967, als plötzlich die Springerpresse für sie war und in Mosche Dayan den wiedergeborenen Feldmarschall Rommel feierte, als Kettenhunde des US-amerikanischen Imperialismus, dem mit einer Parteinahme für die „Opfer der Opfer“, eben die Palästinenser, zu begegnen war. Unter den vielen Institutionen einer „Trikontlinken“ gehörten die „Palästina-Komitees“ zu den Hits. Auch wurde theoretisch nachgearbeitet. Nicht nur Ulrike Meinhof sann darüber nach, ob nicht der von den meisten Deutschen ihrer Generation geduldete oder betriebene Massenmord an den europäischen Juden in Wahrheit ein seiner besten Motive beraubter Antikapitalismus gewesen sei.

Die DDR, offiziell Sachwalter der „Opfer des Faschismus“, unterließ außenpolitisch wenig, um Israels arabische Feinde zu unterstützen. An der Seite der nun wirklich antisemitischen Sowjetunion griff sie jenen westdeutschen Desperados logistisch unter die Arme, die den Seminar-Antiimperialismus ein wenig zu ernst genommen hatten und an der Seite von Carlos mit Feuer und Sprengsatz die Revolution herbeibomben wollten. Ein effektiver Zug im Kalten Krieg. Als der Antizionismus nach dem Debakel des Deutschen Herbstes und dem blutigen Ende der RAF im Gefolge der neuen sozialen Bewegungen auferstand, hatte er sich zivilisiert. Fortan galt es nicht mehr, mit den Palästinensern für die Revolution zu kämpfen, sondern gegen die Israelis für die Menschenrechte einzutreten. Gewaltfrei, wie sich versteht.

Das letzte Refugium der von Antizionismus bis Antisemitismus oszillierenden Feindschaft gegen den Staat Israel, den „Juden unter den Staaten“ (Leon Poliakov), war die deutsche Friedensbewegung, die im Golfkrieg „kein Blut für Öl“ geben wollte und deshalb einem Staat, der auch Überlebende des Holocaust und deren Kinder aufgenommen hatte, das Recht auf bewaffneten Widerstand gegen mögliche Giftgasangriffe aus dem Irak versagen wollte. Dies waren und sind genau dieselben Leute, die heute mit genau derselben Geisteshaltung lieber neue Massaker im ehemaligen Jugoslawien in Kauf nehmen wollen als ihr pazifistisches Dogma aufzugeben und die paar Bundeswehreinheiten dort zu belassen.

Die Geschichte, die ich erzählt habe, ist kurz und ungerecht, und ich habe mich mit dem Hinweis auf gediegene Literatur vor dem Vorwurf geschützt, es mit der historischen Wahrheit nicht genau zu nehmen. Wahrscheinlich war es ein Bündel von mindestens vier Motiven, die die Generation der zwischen 1940 und 1955 geborenen Linken in eine vor dem Hintergrund der NS-Geschichte Deutschlands schon erstaunliche Feindschaft gegen einen Judenstaat führte:

1. Die notwendigerweise unvollständig gebliebene Auseinandersetzung mit den Eltern. Sie, die nicht nur Europa in Schutt und Asche gelegt hatten, sondern auch oft genug am kumulativen Judenmord beteiligt waren, blieben dennoch, in Haß und Wut die eigenen Eltern. Festzustellen, daß das kindliche Unbewußte auch noch Adoleszenter begierig alles aufgriff, was hier Entlastung schaffen konnte, ist beinahe trivial.

2. Die konkrete politische Lage der Linken im Kalten Krieg. Die strategischen Interessen waren klar verteilt, die Sowjetunion und mit ihr der Ostblock galten all ihrem Despotismus zum Trotz als einziges machtpolitisches Gegengewicht wider einen ungebremsten Kapitalismus und somit als jene Größe, auf die eine „wahre“ Linke bei aller Gegensätzlichkeit zu den Funktionärskommunisten angewiesen war.

3. Die Tradition der Linken. Der junge Karl Marx hatte jüdischen Eigensinn als Ausdruck der Geldwirtschaft entlarven wollen, Rosa Luxemburg wollte von „Judenschmerzen“ nichts hören, und daß der Revisionist Eduard Bernstein unter den frühen Sozialdemokraten der einzige war, der für eine jüdische Heimstatt in Palästina eintrat, sprach weder für ihn noch für den Zionismus.

4. Die Dialektik der Moral. Wie ist engagierte Fernstenliebe möglich, und wer ist das historische, moralische und politische Subjekt, das in strenger Befolgung von Fairneß- und Gerechtigkeitsgrundsätzen allen Opfern der Weltgeschichte gleichermaßen tätige Solidarität angedeihen läßt? Es ist – wie könnte es auch anders sein – ein Kind seiner Zeit, seiner Gesellschaft, seiner religiösen, ethnischen und nationalen Vorurteile. Wer so für die „Opfer der Opfer“, die Palästinenser, eintrat, verharmloste vor lauter Rigorismus nicht nur das Grauen des Nationalsozialismus, sondern übersprang zudem – wie die akademische Philosophie das nennt – das eigene Gewordensein. Wer sich dieser Umstände freilich annimmt, fängt notwendig an, in nationalen Kategorien zu denken. Diesem Dilemma ist nicht zu entgehen, sich seiner bewußt zu sein, wäre mehr als zu erhoffen ist.

Micha Brumlik ist Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Heidelberg und Herausgeber des Buches „Mein Israel“ (Frankfurt a. M. 1998)

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